176 Nächte hatten Wolfgang Fuchs und seine Freunde 1963 geschuftet, um den bis dahin längsten Stollen nach Ost-Berlin zu graben. Dann verhinderte tagelang politischer Druck die geplante Flucht.
Wer im richtigen Moment Mut beweist, den belohnt das Leben – jedenfalls manchmal und im besten Fall mit der Freiheit. Monika Steinmetz bekommt in der kalten Nacht vom 7. auf den 8. Januar 1964 überraschend Besuch von einem ihr unbekannten Mann. Er fragt nur: „Bist Du bereit?“ und gibt ihr einen Schnaps, offenbar vermengt mit einem Beruhigungsmittel.
Die 17-Jährige geht los, liest noch weitere Mädchen auf und steuert die angegebene Adresse an: Strelitzer Straße 55, direkt auf östlicher Seite des Sperrgebiets der Berliner Mauer an der Bernauer Straße. Noch weiß sie nicht, dass dort der Fluchttunnel endet, durch den sie nach West-Berlin gelangen soll, in die Freiheit.
„Ich bin einfach so gegangen, wie ganz normal zur Arbeit“, erzählt Monika Steinmetz fast ein halbes Jahrhundert später: „In der Handtasche hatte ich nur meinen Ausweis, weiter nichts.“ Keine verräterischen Papiere, etwa Zeugnisse – derlei lässt die DDR-Grenzposten bei immer möglichen Kontrollen in der Nähe des Todesstreifens misstrauisch werden. Festnahme, Verhöre und oft eine Haftstrafe wegen „versuchter Republikflucht“ können die Folgen sein.
Knapp daneben
Noch schlimmer ist, was den Fluchthelfern droht. Mehrere von ihnen sind durch den tags zuvor fertiggestellten Fluchttunnel vom Keller einer Bäckerei in der Bernauer Straße 97 nach Ost-Berlin gerobbt – 145 Meter weit. Beim Durchbruch war Achim Neumann, einer der erfahrensten Stollengräber, enttäuscht: Die jungen Männer der Gruppe um den 24-jährigen Wolfgang Fuchs, überwiegend Studenten, haben sich „vermessen“. Statt wie geplant nahe an einer Hauswand sind sie mitten auf dem Freigelände hinter den Häusern Strelitzer Straße Nr. 54 und 55 herausgekommen – auf einem Kohlenplatz. „Da war man ja eine lebende Zielscheibe, denn der Todesstreifen und die Mauer waren praktisch unmittelbar daneben. Also, das war ein saudämliches Gefühl“, erinnert sich Neumann.
In der folgenden Nacht wollen die Fluchthelfer trotzdem das Risiko eingehen. Immerhin 176 Nächte haben sie in den engen, kalten Stollen verbracht, ihn Meter um Meter vorangetrieben, manchmal mit einer Fräse, öfter aber mit Spaten und ihren Füßen, auf dem Rücken liegend. Eigentlich sind sie schon kurz nach Weihnachten 1963 bereit für den Durchbruch.
Druck von oben
Doch dann kommt die Enttäuschung. Wolfgang Fuchs geht am 28. Dezember 1963 zum zuständigen Polizeirevier, um den Leitenden Kommissar zu informieren und um Hilfe zu bitten, sollte während der Flucht etwas passieren. DDR-Grenzer schießen ganz gern einmal in Fluchttunnel hinein. Da kann eine vorgewarnte Ambulanz hilfreich sein.
Schon am nächsten Tag wird Fuchs zu einem hohen Beamten beim Innensenator bestellt: „Herr Albertz empfiehlt Ihnen, Ihren Tunnel bis zum 5. Januar nicht zu betreten. Es ist doch klar, was das bedeutet, wie?“ Albertz, der zweite Mann nach dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt, will offensichtlich die laufende Passierscheinaktion nicht gefährden. Zum ersten Mal seit August 1961 können über den Jahreswechsel 1963/64 West-Berliner mit speziellen Genehmigungen ihre Verwandten in Ost-Berlin besuchen.
Dietrich zu kurz
Auch als es dann soweit ist, klappt längst nicht alles wie geplant. Ein wichtiger Kurier kann die für diesen Abend vorgesehenen Flüchtlinge nicht erreichen. Immerhin: Monika Steinmetz wird erreicht und sammelt anweisungsgemäß zwei weitere junge Frauen auf.
Noch etwas ist schiefgegangen: Die beiden Fluchthelfer Peter Schulenburg und Klaus von Keussler sind mit ihren westdeutschen Pässen unterwegs in Ost-Berlin, um die Haustür der Strelitzer Straße Nr. 55 mit Dietrichen zu öffnen. Zu den festen Regeln des DDR-Grenzregimes gehört, dass die Zugänge zu allen Häusern in Grenznähe bei Dunkelheit stets verschlossen sein müssen.
Doch in den maximal anderthalb Minuten, die von Keussler Zeit hat, unter den Augen des Grenzpostens am Türschloss zu hantieren, tut sich – nichts. Unverrichteter Dinge muss er mit seinem zu kurzen Dietrich wieder abziehen. Also müssen die Fluchthelfer, die durch den Tunnel kommen, die Haustür von innen öffnen.
Es sind in dieser Nacht Wolfgang Fuchs und Christian Zobel, außerdem Achim Neumann und Klaus von Keussler. Per Funk werden sie informiert, dass drei Personen im Eingang zur Nr. 55 verschwunden sind. Flüchtlinge? Oder Hausbewohner? Besucher? Vielleicht auch getarnte Grenzposten?