Einige Jahre waren bereits ins Land gegangen, als im Märchenwald, in dem die Geschichte vom Wolf und den sieben Geißlein gespielt hatte, ein neuer Wolf sein Unwesen trieb. Davon hörte auch das kleinste, das siebte Geißlein. Es war jetzt schon eine große Geiß und hatte wie seine Mutter ebenfalls sieben kleine Kinder zur Welt gebracht. Die Uhrengeiß musste ihre kleinen Geißlein erziehen und erzählte ihnen von der Begebenheit mit dem bösen Wolf. „Also, meine Kinderchen, ihr dürft auf keinen Fall allein in den Wald gehen, denn dort könntet ihr auch dem bösen Wolf begegnen und er wird euch fressen. Darum bleibt immer schön bei mir. Und wenn ich einmal einkaufen gehe, dürft ihr das Haus nicht verlassen und alle Türen müssen zweimal abgeschlossen sein. Auch den großen Riegel an der Eingangstür müsst ihr vorschieben.“ „Ja, das machen wir“, riefen die sieben Geißlein. Drei Tage später musste die alte Geiß nun zum Bauern, um frisches Heu, saftige Äpfel und Salat zu holen. Sie benutzte eine große Kiepe, die sie auf ihren Rücken band und so das Futter für ihre Kinder nach Hause trug. Als die alte Geiß gegangen war, machten die sieben Kinder es genau so, wie ihre Mutter es gesagt hatte. Diese war fast zwei Stunden fort und als sie nach Hause kam, war alles bestens in Ordnung. Ihre Geißlein hatten gut aufgepasst und die Anordnungen beachtet. Die Mutter Geiß hatte aber nicht bemerkt, dass der Wolf sie beobachtete. Er war noch ein unerfahrenes Tier und hatte ziemlichen Respekt vor den spitzen Hörnern der alten Geiß. Immer wenn sie nach Hause kam und die Tür öffnete, sprangen ihre sieben Kleinen um sie herum und machten ein Höllenspektakel. Das hörte der Wolf und ihm lief gleich das Wasser in seinem Maule zusammen. Er dachte bei sich: „Die kleinen Geißlein hole ich mir, das gibt ein Festmahl. Aber wie stelle ich das nur an? Solange die alte Geiß zu Hause ist, kann ich sie mir nicht holen.“ Also legte er sich auf die Lauer und beobachtete das Haus, bis ihm plötzlich ein Plan einfiel. Er lief zum Bauern und klopfte an dessen Haustür. Doch als der Mann den Wolf sah, erschrak er fürchterlich und fragte ängstlich, was er wolle. „Ich will eine Kiepe mit frischem Heu“, sagte der Wolf. „Was willst du damit? Wölfe fressen kein Heu.“ „Gib mir das Heu, ich fresse gerne vegetarisch. Wenn du nicht folgst, dann fresse ich dich.“ Der Bauer gab ihm das Gewünschte und der Wolf machte sich sofort auf zu seinem Versteck in der Nähe des Geißhauses. Er beobachtete, wie die alte Geiß mit ihren Kindern vor dem Haus tanzte und sang. Nach einer halben Stunde gingen sie wieder hinein und verriegelten Tür und Fenster. Auch der Wolf war müde, nahm sich das Heu aus der Kiepe und machte sich für die Nacht ein Lager. Der nächste Morgen brach herein und der Wolf erwachte. Sofort schaute er zum Haus hinüber, doch die Fensterläden waren noch zu. Nach zwei Stunden machte sich die Mutter Geiß wieder mit der Kiepe auf, um Futter vom Förster zu holen. Dieses Mal wollte sie Kastanien und Eicheln für ihre sieben Geißlein besorgen. Sie ermahnte ihre Kinder noch einmal, Fenster und Türen geschlossen zu halten. Als der Wolf das sah, füllte er seine Kiepe wieder mit dem Heu. Inzwischen hatte die Geißenmutter den Waldweg erreicht und war gleich darauf zwischen den Bäumen verschwunden. Nun wollte der Wolf zuschlagen. Er nahm die Kiepe auf und lief eilige zum Geißhaus. Dort stellte er sich vor die Tür und klopfte. Dann rief er: „Frisches Heu, frische Heu! Für die sieben Geißlein vom Bauern das Heu!“ Das größte Geißlein schaute aus der kleinen Luke, die sich in der Tür befand und sah die Kiepe. Sofort war ihm klar, dass da etwas nicht stimmen konnte, da die Mutter gestern erst Heu gebracht hatte und heute Kastanien holen wollte. Außerdem roch das Heu nicht mehr frisch. Da steckte bestimmt der böse Wolf dahinter. Daher rief es: „Wir machen nicht auf, das Heu riecht auch nicht mehr frisch, es riecht nach Wolf. Die Tür bleibt verschlossen!“ Wütend nahm der Wolf seine Kiepe und lief in den Wald zurück. Dort sah er die alte Geiß mit den Kastanien und Eicheln kommen. Nun überlegte er, ob er vom Förster Kastanien und Eicheln holen sollte. Aber diesen Gedanken ließ er wieder fallen, denn der Förster besaß ein Gewehr, mit dem er den Wolf erschießen könnte. Nachdenken machte Durst. Daher lief der Wolf zum Waldbach, um zu saufen. Als er dort ankam, sah er wie die alte Geiß ihre sieben Kleinen zum Bach führte, um sie das kristallklare Wasser trinken zu lassen. Isegrim freute sich. Das war eine gute Gelegenheit, um ein Geißlein zu fangen. Er schlich sich ganz leise an sie heran. Alle tranken in vollen Zügen das erfrischende Quellwasser. Plötzlich sprang der Wolf auf ein Geißlein los und schnappte es. Dann lief er, so schnell er konnte, zum Waldweg, um es dort zu fressen. Die alte Geiß bemerkte den Wolf zu spät, lief ihm aber trotzdem hinterher. Doch Isegrim war schneller. Sie gab auf, lief zurück zu ihren sechs verbliebenen Kindern, nahm sie an die Hand und brachte sie eilig zurück in ihr Heim. Dabei tropfen Tränen aus ihren Augen. Auch die sechs Geißlein weinten bitterlich um ihr Geschwisterchen. Der Wolf saß nun am Waldweg und hatte das kleine Geißlein in den Pfoten. Es schrie bitterlich und flehte den Wolf an: „Friss mich bitte nicht.“ Doch der Wolf antwortete nur: „Wölfe müssen Geißlein fressen“ und riss sein großes Maul auf und wollte zubeißen. Plötzlich ertönte ein Knall. Der Wolf fiel um und war tot. Der Oberförster Grünrock hatte die Tragödie um das Geißlein beobachtet und den Wolf erschossen. Er zog dem Grautier das Fell über die Ohren. Danach nahm er das Geißlein auf den Arm und brachte es zurück in das Geißhaus. Die Freude war riesengroß und Mutter Geiß backte Kastanienkuchen. Der Förster nahm das Wolfsfell und nagelte es an die Tür des Hauses der Geißlein. Es soll in die Zukunft als Abschreckung für andere Wölfe dienen. Auch heute noch ist das Fell am Geißhaus im Märchenwald zu sehen. (c) Friedrich Buchmann