Heute wurden meine Zwillingsenkelinnen 16. Wir waren beisammen und haben sie für Morgen verabschiedet. Ferien in Oberstdorf in den Allgäuer Hochalpen.... Ich denke drüber nach, in welcher Freiheit sie leben. Einfach mal so mit den Eltern nach Augsburg eine betagte Tante zum Mittag einladen und dann nachmittags Weiterfahrt nach Oberstdorf. Einfach mal so, ohne Antrag über Grenzen hinweg, 630 km weit.
Wie war das doch gleich, noch 1986 und in Folge, als ich mal nach Düsseldorf wollte?
..... 1986 hat mich der Teufel geritten … Im Spätherbst 1986 rief Tante Aenne für viel Geld und nach stundenlanger Fernamt-Anmeldung (Durchwahl war von keiner Seite aus möglich) bei uns an. Ja, auch wir “Handwerkers” hatten seit geraumer Zeit einen halben Telefonanschluss. Wir mussten uns allerdings einen ganzen mit Nachbar Herzig teilen. Telefonierte Zottmann hatte Herzig Sendepause, oder umgekehrt. Nun, sie teilte mir ganz aufgeregt mit, das “unser” Honecker angeblich ab sofort seine Genossen handverlesen in den Westen fahren ließ. Das war mal eine Nachricht! 2 Tage später wurde ich in der Meldestelle des Volkspolizeikreisamtes in Quedlinburg vorstellig. Hier war ich letztmalig vor 14 Jahren mit Sharon und Karlo bezüglich ihrer Rückreise-Visa. Ich wusste nun schon durch eigenes Erleben, dass man hier bereits im Flur von der Stasi abgehört wird. Ich würde zu gern wissen, wie viele von den Antragstellern getarnte Stasi-Leute waren, die nur so im Flur rumlungerten um anständige Bürger auszuhorchen. Hätten damals alle Stasis geleuchtet, wäre Quedlinburg nachts selbst ohne Straßenlaternen taghell gewesen. Zu viele reiselustige Mitmenschen hatten die gleiche Honecker-Botschaft vernommen und eine vage Hoffnung im Bauch, jedenfalls musste auch ich sehr lange warten. Endlich war ich an der Reihe. Als ich denen sagte, ich wolle lediglich in den Westen, weil meine Tante gern mit mir Weihnachten feiern möchte, war meine Reise auch schon beendet.
Ein Genosse W. war mein “Rausschmeißer”, er hob seinen Hintern kurz an, um mir meine sofortige “Verabschiedung” anzudeuten. Der gleiche Mann hatte im WBK mit mir gemeinsam die Meisterschule begonnen, musste dann aber unbesehen dessen seinen Wehrdienst bei der Bereitschaftspolizei in Halle antreten. Er ist anschließend, so vermute ich, offensichtlich aus persönlicher Begeisterung bei der Polizei geblieben. Mich kannte der auf einmal nicht mehr. Ganz schön vergesslich war der Genosse Polizist … Übrigens hat sein eigener Klassenfeind ihn nach der Wende übernommen und dieser Wendehals tut heute noch dort, nun sogar in höherer Stellung seinen Dienst. Dessen Rente hätte ich gern … Mein großes Glück war, dass meine “Sprich”-Tante Aenne am 11. März des Folgejahres just ihren 75. Geburtstag feierte. So konnte ich flugs einen neuen Antrag einreichen. Wenn das kein echter Anlass war, dann weiß ich nicht …
Parallel musste mein alter Arbeitgeber umgehend eine Beurteilung über mich anfertigen. Die brauchte die Staatssicherheit bei jedem Antragsteller zur “Entscheidungsfindung”. Diese Aufgabe übernahm mein lispelnder gutmütiger Parteisekretär. Der lispelte am meisten wenn er log. Seine arme Sekretärin wird beim Schreiben meiner Beurteilung einen feuchten Nacken gehabt haben. Er muss über mich Sachen diktiert haben, dass sich die Balken bogen … log “sozialistisch”, zu meinen Gunsten … Nun musste Tante Aenne nur noch sicherheitshalber meine “echte” Tante werden.
So ersann ich abends im Bett und mehreren schlaflosen Nächten ihren verstorbenen Mann Hans zum unehelichen Sohn meiner verstorbenen Oma Hedwig. Mein Vater meinte später einmal, Oma Hedwig, als gläubige Siebententags-Adventistin, hätte mir das nie verziehen, dass ich ihr ein uneheliches Kind angedichtet habe. Da hatte er sicher recht. Doch es war ja wirklich keine üble Nachrede, und die politischen Umstände ließen mir keine andere Wahl, wenigstens etwas Hoffnung auf Erfolg zu manifestieren. Ich sah damals keine andere mögliche, und vor allem gefahrlose Lüge, um in den Westen zu gelangen, um dem verlogenen Staat Paroli zu bieten. Wäre mein Lügengerüst zusammengestürzt, könnte ich mich so immer herausreden: Die beiden haben mir das so erzählt. Punkt aus Ende! Und Verstorbene wurden auch in der DDR nie belangt … Nie! Gegenteiliges hätte mir keine Stasi beweisen können. Schluss, aus, basta! Denen war ich lästig …
Jetzt, im Februar 1987, saß ich schon wieder in ihrem Antragspalast. Dieses Mal “betreute” mich eine uniformierte Frau. Oh, oh, eine Frau in Uniform, man ahnt nichts Gutes – doch es kam ganz anders: “Zottmann, Zottmann…? Sagen Sie mal, da gab es früher in der Süderstadt mal einen Jungen mit so einem tollen LKW …!?” – “Ja, das bin ich, und nun will ich meine Tante zum 75. besuchen!” Das Eis war gebrochen, obwohl wir nicht ganz alleine im Raum waren....