Es gibt keine Gräber, keine Urnen, keinen Leichnam – das Abschiednehmen von den Mauertoten ist nicht einfach. Stefan Weinert hat den Familien der Mauertoten einen bewegenden Dokumentarfilm gewidmet.
Mindestens 138 Menschen sind an der Berliner Mauer gewaltsam ums Leben gekommen. Doch eigentlich hat der Todesstreifen noch viel mehr Opfer gekostet: Die verletzten und die eingesperrten gescheiterten Flüchtlinge, und nicht zuletzt die Angehörigen der Toten. Ihnen hat jetzt der Regisseur Stefan Weinert seinen beeindruckenden Dokumentarfilm „Die Familie“ gewidmet.
Da ist zum Beispiel Irmgard Bittner. Ihr Sohn Michael hatte bereits mehrere Ausreiseanträge gestellt, seit er während seines Wehrdienstes gegen die Brutalität in der Nationalen Volksarmee aufbegehrt hatte. Doch alle Anträge wurden abgelehnt. Am 23. November 1986 dann sagte Michael seinem Bruder, er dürfe nun ausreisen – doch in Wirklichkeit hatte er sich entschlossen, in der folgenden Nacht die Flucht zu wagen.
Quer durch den Todesstreifen, von Glienicke bei Oranienburg in den nördlichsten Ortsteil von West-Berlin, nach Frohnau. Doch Bittner hatte kein Glück. Er löste einen Alarm aus und wurde von zwei Grenzposten mit 32 Schüssen getötet – in den Rücken.
Vertuschung war, neben der „Unverletzbarkeit der Staatsgrenze“ natürlich, das wichtigste Prinzip der Grenztruppen. Obwohl Michael Bittners Leichnam in den Mauerstreifen zurückgefallen war und sogar ordnungsgemäß obduziert wurde, tat die Stasi fortan alles, um die Identität des Toten geheim zu halten.
Die beteiligten Grenzposten und das medizinische Personal mussten sich verpflichten zu schweigen. Um Bittners Angehörigen sein spurloses Verschwinden zu erklären, erfand die Staatssicherheit eine aufwendige Legende. Angeblich sei er von einer „kriminellen Menschenhändlerbande“ aus der DDR „geschleust“ worden. Sogar ein Haftbefehl wurde gegen ihn erlassen, obwohl intern natürlich bekannt war, dass er erschossen worden war.
Trotz aller Bemühungen des SED-Regimes ahnte Irmgard Bittner, dass ihr Sohn das Opfer des im Westen registrierten Zwischenfalls an der Grenze in der Nacht vom 23. auf den 24. November 1986 geworden war. Doch Antworten bekam sie nicht. Um alle Beweise verschwinden zu lassen, wurde der Leichnam abtransportiert, vermutlich eingeäschert und die Asche irgendwo entsorgt. Bis heute weiß Irmgard Bittner nicht, wo die sterblichen Überreste ihres Sohnes liegen. Er hat kein Grab bekommen. Eine zusätzliche Qual.
Bild entfernt (keine Rechte) Viele scheiterten daran, die innerdeutschen Grenzen zu überqueren Quelle: Basis Filmverleih
Besonders eklatant ist der Fall von Helmut Kliem. Mitte November 1970 war der damals 31-jährige Familienvater mit seinem Bruder Bernhard im Motorradgespann in Falkensee unterwegs. Im Gespräch verfuhr er sich und sah plötzlich vor sich die Sperranlagen zum West-Berliner Bezirk Spandau
Mit einer Flucht aus der DDR aber hatten die beiden Brüder nichts im Sinne – viel zu gefährlich! Außerdem wollte Helmut seine Frau und seinen gerade einjährigen Sohn Heiko abholen. Also wendete er sein Dreirad und gab Gas, um davonzubrausen.
Zwar hatte er Warnschilder übersehen und war versehentlich ins gesperrte Grenzgebiet eingedrungen. Dennoch hatte sich Kliem dem Todesstreifen doch nicht so weit genähert, dass irgendjemand von einer Fluchtabsicht hätte ausgehen können.
Der von seinen Vorgesetzten zu rücksichtslosem Vorgehen gegen „Grenzverletzer“ aufgehetzte Posten feuerte seine Kalaschnikow ab und verletzte Helmut Kliem tödlich, seinen Bruder im Beiwagen schwer.
Da es diesmal einen überlebenden Zeugen gab, konnte der Tod nicht vertuscht werden. Trotzdem gab es keine angemessene Information. Erst 1997 erfuhr Heiko Kliem, der Sohn, wie genau sein Vater gestorben war – ihm wurde in den Rücken geschossen.