Seit den Dreißigerjahren leben Heinrich und Johanne Traue mit ihren fünf Kindern in dem Dorf Carpin im Süden Mecklenburg-Vorpommerns. Ihr 60 Hektar großer Bauernhof bringt gute Erträge - bis im Mai 1945 die Rote Armee einmarschiert und ihren Viehbestand stark dezimiert. "Wir hatten buchstäblich nur noch Hund und Katze, selbst der Storch auf dem Dach war erschossen", erinnert sich Helga, die jüngste Tochter.
Ob Getreide, Eier, Zuckerrüben oder Schafswolle - das staatlich auferlegte Ablieferungssoll für landwirtschaftliche Produkte, mit dem die Versorgung der Bevölkerung gesichert werden soll, kann die Familie nicht mehr erfüllen. Sie erhält erste Verwarnungen. Im November 1946 spitzt sich die Lage zu: Ablieferungskommissionen durchsuchen die Carpiner Höfe und inhaftieren mehrere Bauern, auch Heinrich Traue und seinen Sohn Joachim.
Haft, Enteignung, Vertreibung
Im Schnellverfahren findet die Verhandlung vor dem Landgericht Güstrow statt. "Wirtschaftssabotage" lautet der Vorwurf gegen Vater und Sohn. Das Urteil wird rasch gesprochen: Heinrich Traue erhält acht Jahre Gefängnis, sein Sohn sechs. Nach einer Revision des Prozesses, bei dem ein Westberliner Anwalt hilft, wird das Strafmaß auf fünf und dreieinhalb Jahre reduziert. Heinrich und Joachim Traue werden in völlig überfüllte Zellen gesteckt. Die Haft zerstört die Gesundheit des fast 70-jährigen Vaters. Im August 1949 hat das Gnadengesuch der Familie Erfolg: Nach zwei Jahren und neun Monaten werden Vater und Sohn vorzeitig entlassen.
Doch wohin? Die Familie wurde mittlerweile enteignet, der Hof in kleinere Flächen aufgeteilt und an Neusiedler vergeben. Die Traues wohnen nun auf engstem Raum bei Verwandten in Carpin. Dort erhalten sie am 21. Dezember 1949 vom Bürgermeister Besuch - und die Nachricht, dass sie, da mittlerweile enteignet, das Dorf binnen zehn Tagen verlassen müssen. In der Silvesternacht ziehen die Traues mit ihrer wenigen Habe in die 35 Kilometer entfernte Stadt Mirow. Dort wird ihnen eine neue Wohnung in einem düsteren Hinterhof zugewiesen.
"Ich wette, das ist die Stasi"
Helga Traue macht einer Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1950 nimmt sie eine Stelle in der Nähe von Friedland an, später wechselt sie nach Neubrandenburg. Dort wird ihr im November 1952 mitgeteilt, sie solle im Einwohnermeldeamt erscheinen. Sie bespricht sich mit ihrer Arbeitskollegin. "Wir standen in einem abgedunkelten Zimmer, guckten auf die Straße, und da sagt sie: 'Ich weiß, was das ist. Guck mal da runter, da gehen zwei Männer immer auf und ab. Ich wette, das ist die Stasi.'"
Die Arbeitskollegin liegt richtig. Am nächsten Tag wird Helga Traue von einem kleinen, freundlichen Mann im Einwohnermeldeamt empfangen. Er stellt ihr den Posten einer Schulleiterin in Aussicht, wenn sie mithelfe, Staatsfeinde ausfindig zu machen. Helga Traue wagt es nicht, abzulehnen. Der fremde Mann diktiert ihr Wort für Wort eine Verpflichtungserklärung. Jahrzehnte später findet sie das Schreiben in ihren Stasiakten wieder. Darin heißt es: "Ich, Helga Traue, geboren am 20.7.27 in Bernsdorf in Schlesien, erkläre mich bereit, der Verwaltung der Staatssicherheit im Kampf gegen Feinde der Deutschen Demokratischen Republik zu helfen und zu unterstützen. […] Ich bin mir bewusst, dass ich bei Brechung meiner Schweigepflicht zur Verantwortung gezogen werde."
Noch während des Schreibens fasst Helga Traue einen Entschluss: Sie muss fort. "Schon bei der Überschrift, bei dem Wort 'Verpflichtung', da begann es in meinem Hirn wirklich hart zu arbeiten. Und mir war klar: Ich kann das, was ich mir vorgenommen habe, nämlich hier in Mecklenburg zu bleiben, bei den Eltern zu bleiben, für die Eltern zu sorgen, nicht durchhalten. Dieses hier ist einfach das Zeichen dafür, dass ich weggehen muss."