Einst wurde ein Mädchen namens Anna, das durch ein Unglück Mutter und Vater verloren hatte, zu ihrer noch einzig verbliebenen Tante gebracht. Diese Frau war boshaft, geizig und zänkisch, ebenso deren hässliche Tochter. Anna musste alle anfallenden Arbeiten erledigen. Ein Schlafplatz wurde ihr im Stall zugewiesen, was ihr nichts ausmachte, da sie Tiere sehr liebte. Sie teilte sich Wasser und Brot mit ihnen, denn die Tante bedachte sie zwar mit genügend Arbeit, selten aber mit einer warmen Mahlzeit. Doch das Mädchen war brav und fleißig. War ihr das Herz schwer, suchte sie Trost bei den Schafen, Ziegen und der bunt gescheckten Kuh.
Anna wuchs wie zum Trotz ihres kärglichen Daseins zu einer wahren Schönheit heran und aus ihrem Kindergewand heraus. Da sie keinerlei Kleidung bekam, nähte sie sich aus Säcken, die durchlöchert und damit nicht mehr zu gebrauchen waren, etwas zum Überziehen. Von da an wurde sie von der Tante und deren Tochter nur noch die Lumpenanna genannt. Doch es gab nicht nur Arges in ihrem Leben. Ein paar Häuser weiter lebte ein alter grauhaariger Mann, der sie als Kind vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Denn als die Tante wieder einmal alle Niedertracht an dem Mädchen ausließ, war Anna damals weinend in Eiseskälte davongelaufen. Der alte Mann kam gerade vom Reisigsammeln zurück und sah sie am Waldrand neben einem uralten Baum sitzen, dessen lange Zweige sich bis zur Erde bogen. Fast wollte er an dem Kind achtlos vorübergehen. Doch dann nahm er das Bündelchen, wenn auch nicht gerade aus reiner Nächstenliebe, auf die Arme und trug es in seine Hütte. Nach und nach entwickelte sich eine tiefe Freundschaft.
Es war Heiligabend. Anna fegte und putzte den lieben langen Tag. Wie immer zum Fest bedachte sie die Stalltiere mit viel Stroh, damit sie es besonders warm und trocken hatten und brachte Heu und die im Herbst eigenhändig gesammelten Eicheln und Kastanien zu den Waldtieren. Ein Laib Brot, ein paar Äpfel und sogar ein kleines Stück Speck überreichte ihr die Tante am Abend gönnerhaft, doch das Haus blieb der Jungfrau verwehrt. Schließlich wollte die Hausherrin nicht, dass ihre leibliche Tochter vom Besuch, der diesmal eventuell einen Schwiegersohn versprach, unbeachtet bliebe. Anna machte das nichts aus, war sie es doch gewohnt, ausgeschlossen zu sein. Aber ganz allein würde sie nicht sein müssen, denn es gab ja den alten Mann. Doch vor dem Besuch wurden Brot und Äpfel mit den Tieren geteilt. Der Speck war als Geschenk für ihren Freund gedacht.
Den Heiligabend empfanden beide jedes Mal wie ein Geschenk, da sie einander hatten. Das Festessen bestehend aus Eiern mit Speck mundete ihnen ebenso köstlich wie anderen ein Gänsebraten. Plötzlich klopfte es an der Eingangstür. Anna öffnete. Davor stand ein Rehbock. Er zog Anna an ihrem Lumpenkleid als Zeichen, ihm zu folgen. Der Alte nickte lächelnd und sagte: „Es ist hohe Zeit! Geh mit ihm, hab Vertrauen. Du sollst nun gerechten Lohn für all den Kummer und die Mühen in deinem bisherigen Leben erhalten und mich erlösen.“ Erschrocken nahm Anna wahr, wie sich ihr Freund bei seinen Worten in Luft auflöste. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und lief hinter dem Rehbock her, der sie genau zu dem Baum führte, unter dem sie als Kind fast erfroren wäre. Als sie unter dessen langen Zweigen stand, wurde ihr plötzlich schwindelig. Beinahe wäre sie in Ohnmacht gefallen, doch zwei starke Arme fingen sie auf. Leicht benommen schaute sie fragend in das Gesicht eines jungen Mannes, dessen gütige und warme Augen ihr seltsam vertraut vorkamen. Auch war ihr Lumpenkleid verschwunden. Stattdessen umhüllte sie ein warmer, pelzbesetzter Mantel, unter dem ein silbernes Kleid hervor blitzte. „Ja, ich bin es wirklich, meine geliebte Anna, dein alter Freund. Eine Fee verzauberte mich dereinst in einen griesgrämigen Alten, da ich ungestüm war und vor keinerlei Leben Achtung empfand. Auch mir sollte in dieser Gestalt kein Lebewesen Achtung entgegenbringen. So sollte ich mein Dasein fristen bis ich eine gute Tat vollbringen und mich, so wie ich bin, ein Mädchen zu seinem Freund erwählen würde. Du hast nicht nur dies getan, sondern hast dich auch um meine Untertanen gekümmert, wofür ich dir ebenfalls unendlich dankbar bin. Nun kann ich wieder der sein, der ich einst war.“ „Aber, wer bist du?“ „Ich bin der Herr der Tiere dieses Waldes. Mein Rehbock half mir in meiner schlimmsten Zeit. Doch als ich dich damals unter diesem Baum hier fand und mitnahm, blieb er aus. Das war für mich ein Zeichen, dass ich ein Herz, dein Herz für mich gewinnen könnte. Ich gab mir große Mühe und sind wir nicht die besten Freunde geworden?“ „Oh, ja! Das sind wir. Ein Leben ohne dich könnte ich mir gar nicht mehr vorstellen“, hauchte Anna glückselig. „Dann werd meine liebe Frau und komm mit in mein Reich!“ Plötzlich fuhr eine Kutsche vor, gezogen von vier Schimmeln. Anna und der Herr der Tiere stiegen ein. Der Kutscher knallte fröhlich mit der Peitsche in die Luft und einige Zeit später standen sie vor einem herrlichen Palast. „Wieso ist mir dieses Schloss nie im Wald aufgefallen?“, fragte Anna und konnte es nicht fassen, da sie auf diesen Platz doch immer Futter für die Tiere auslegte. „Kein menschliches Auge kann ihn sehen, nur die Waldbewohner, die zu meinem Reich gehören“, entgegnete ihr Bräutigam schmunzelnd.
Nach drei Tagen feierte der gesamte Wald die Hochzeit ihres Herrn mit seiner Auserwählten. Da die böse Tante und ihre hässliche Tochter nun niemanden mehr hatten, der ihnen die Arbeit abnahm, mussten sie wieder selbst alles erledigen. Nun wollten sie genau am Hochzeitstag Reisig sammeln. Doch jeder Ast und jeder Strauch kratzte und zerrte an ihnen. Auf nassem Laub rutschten sie aus und holten sich blaue Flecke. Nicht ein Zweiglein gab ihnen der Wald. Alles schien am Boden festgewachsen zu sein. Schade, dass sie das Lachen der Waldgewächse nicht hören konnten.